Vorweg: den Begriff "Nachdenkerei" habe ich von Erich Kästner aus seinem Roman "Pünktchen und Anton" gelernt, wo er in die eigentliche Geschichte einige Artikel einfügte, mit denen er die Leser zum Nachdenken anregen wollte. So möchte ich auch diesen Artikel verstanden wissen: Unser Hauptanliegen ist das Musizieren, aber innehalten und nachdenken, was wir da tun, ist durchaus sinnvoll. Als ich für eine CD eine Auswahl von den Aufnahmen unserer Konzerte unter dem Motto "Von Oper bis Musical" zusammenstellte, fiel mir auf: Da sind ja 8 von 10 Titeln Medleys! Das machte mich dann doch auf einmal nachdenklich. Schließlich fiel mir ein, dass sich Johann Wolfgang von Goethe in "Faust. Eine Tragödie" auch mit diesem Thema beschäftigt hatte, wenn auch Sprachtheater betreffend: Im Deutschen Textarchiv (DTA) an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (seit 2007) werden authentische Texte veröffentlicht, sogar als Faksimile-Bilder:
1808, Goethe: Faust, Titel und Seite 12 (Vorspiel)
Goethe nennt "Ragout", was wir jetzt in der Musik "Potpourri" oder "Medley" nennen. Die zwei Zeilen:
"Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen;
Und jeder geht zufrieden aus dem Haus."
sind weithin bekannte "geflügelte Worte", doch man sollte die ganze Rede des "Directors" bedenken. Es gibt nämlich noch mehr passende Aussagen, aber wenden wir uns jetzt wieder der Musik zu.
Die Orchester kennen die Medleys, denn sie wurden "schon immer" gespielt. Wir sollten aber einmal den Sinn dieser Arrangements hart hinterfragen.
* Warum gibt es sie überhaupt, welchen Zweck sollen sie erfüllen?
* Welche Wirkung möchte man damit beim Publikum hervorrufen?
* Wie muss ein Medley arrangiert sein, damit es ein Amateur-Orchester
überzeugend spielen kann?
Fangen wir mit der Bezeichnung an: Es gibt einen älteren französischen Begriff für das Medley, "Potpourri", dessen Gehässigkeit die wörtliche Übersetzung ins Deutsche enthüllt: ein "Topf Verdorbenes". Auch für die Bezeichnung "Medley" gibt es gehässige Übersetzungen, z. B. "Misch-Masch". Es gibt in Wirklichkeit aber gar nicht so gehässige Bezeichnungen, die den Charakter des Arrangements beschreiben: "Melodiensammlung", "Melodienstrauß", "Melodienreigen". Öfters findet man für Medleys im Titel "The Best of …." oder "Highlights from …" oder "Selection …". Das drückt aber immerhin aus, was man mit dem Musikstück beabsichtigt, nämlich den Hörern in Kurzfassung zu zeigen: So schöne Musik gibt es von diesem Komponisten, Sänger oder - selten - von diesem Instrumentalmusiker. Wer von dieser Musik früher begeistert war, wird dann auch noch an die guten Empfindungen von damals, wie z. B. die erste Liebe, erinnert. Es reicht aber auch schon, wenn einem der Gedanke "Ach, das kenn' ich doch!" aufblitzt.
Das Eindampfen der Musik
Eine böse Definition habe ich aber auch in Erinnerung, deren Quelle ich jedoch (leider) vergessen habe: "Hier habt ihr eure Schmachtfetzen, für die ihr sonst 2 Stunden Veranstaltung über euch ergehen lasst!" Aber leider ist an diesem Argument etwas dran. Es gibt nämlich Menschen, deren Aufmerksamkeitsspanne nicht für lange Musikstücke reicht. Denen kann man helfen, wenn man bei langen Musikstücken auf unnötige Wiederholungen verzichtet. Ich habe das einmal ausprobiert. Als Opfer für dieses Experiment diente mir eine Aufnahme der 5. Symphonie von Beethoven, die das Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks unter bemitleidenswerten Pandemie-Bedingungen im Jahr 2020 aufgeführt hatte. Die Musiker spielten sehr einfühlsam sanft und technisch ausgezeichnet, so als hätten sie noch genau im Gedächtnis, was ihr Sender 1969 in einer Sendung zum Thema Beethoven-Interpretation veröffentlicht hatte: "Löwenmusik, ein Versuch, Beethoven vor einigen seiner Bewunderer zu retten". Gemeint ist mit "Löwenmusik" die bombastische Art der Aufführung. (Siehe hierzu auch "Lernen mit zwei Methoden"). Der erste Satz mit seinen über 7 Minuten Dauer ist wahrlich schon lang. Die Themen 1 und 2 ließ ich unangetastet, danach aber eliminierte ich die Wiederholungen in der "Durchführung" und siehe da: die gekürzte Version dauert nur 3 Minuten und 10 Sekunden. Hier ist das Ergebnis:
2020: Beethoven, Symph. Nr.5, Satz 1, hr-Orchester, Kurzversion (mp3)
Wenn das Fenster des Audioplayers nicht von alleine schließt,
bringt ein Klick auf den "Zurück"-Befehl im Explorer den Textartikel zurück.
Das Ergebnis verblüffte mich: Das, was man gemeinhin kennt, ist sehr wohl noch vorhanden, und man hat Schwierigkeiten, zu benennen, was eliminiert wurde. Das ist verdächtig verwandt mit der Idee der Kondensmilch, die im 19. Jahrhundert entwickelt wurde: Der frischen Milch wurde Wasser entzogen, damit die teuren Blechbüchsen, in die sie damals verpackt wurde, nicht so groß sein mussten. Die Kondensmilch wird zudem auch heute noch durch Erhitzen haltbar gemacht und ändert dadurch ihren Geschmack, weswegen man sie auch anders benutzt als die Frischmilch. Haben wir es bei den Medleys - oder allgemein: gekürzte Versionen von Musikstücken - etwa mit "Kondensmusik" zu tun?
Wem dieses Beispiel nicht behagt, der sei auf das "Bockbier" (stärkeres Bier nach Einbeck'scher Art) verwiesen oder auf die "Mumme" (stark eingedicktes Bier als Vorrat auf Schiffen), oder auf die Liköre und Brände (Schnäpse), bei denen noch stärker Wasser eingespart wurde. Beim Wein sind die Arten, die weniger Wasser enthalten, sogar besonders geschätzt: Spätlese, Trockenbeeren-Auslese oder gar Eiswein. Ist es also nicht doch von Vorteil, die Musik von allzuvielen Wiederholungen zu befreien, damit man in begrenzter Zeit mehr Titel anbieten kann? Wie Goethe schon sagte: "Wer vieles bringt ...". Wegen dieses breiten Spektrums der Meinungen lohnt es sich, über das Eindampfen von Musikstücken nachzudenken.
Als ich die Aufnahmen von unseren Konzerten durchsuchte, fiel mir bei "Capriccio Italien" auf, dass ich von diesem Titel nur nebulöse Kenntnisse hatte. Vom Komponisten P. I. Tschaikowsky kannte ich Symphonien, Solokonzerte, aber eben nicht "Capriccio Italien" (kein Ruhmesblatt für mich!). Als wir dies spielten, war mir deshalb auch kein Thema, wie weit für das Arrangement das Original "eingedampft" wurde. Als ich mich aufgerafft hatte, das Original anzuhören, zuckte ich doch zusammen! 15 Minuten waren zu 3 Minuten geschrumpft. Was war da vom Original geblieben? Es waren die Teile mit den melodiösen Themen, die ich auch "schon mal gehört hatte".
Vermutlicher Anfang des Medleys
Dem Medley verwandt, vielleicht sogar sein Vorläufer, ist die symphonische Form "Ouvertüre", auf deutsch: "Eröffnung", zu deren Entstehung es einen guten Wikipedia-Eintrag gibt:
Wikipedia-Artikel zur Entwicklung der Ouvertüre
Der Zweck einer Ouvertüre ist, den Hörer auf das kommende Werk einzustimmen. Ohne trennscharfe Definition wurde die Bezeichnung ab dem 17. Jahrhundert für Konzertmusik verwendet, von J. S. Bach auch für ganze Werke. Bei den neu aufkommenden Opern und Operetten war das zunächst ein eigenständiges Instrumentalstück, bei dem die Bühne noch geschlossen war. Da die "opera" in Italien entwickelt wurde, verwundert es nicht, dass dort auch ein italienischer Ausdruck benutzt wurde, "sinfonia", der allerdings nicht mit "Eröffnung" ins Deutsche zu übertragen ist, sondern seine aus dem Griechischen stammenden Grundbegriffe sind "zusammen" und "Klang" oder "Stimme". Dann bahnte sich im 19. Jahrhundert an, dass Themen aus dem Hauptwerk in die Ouvertüre eingebaut wurden. Ein deutliches Beispiel hierfür ist die Ouvertüre zur "Fledermaus" von Johann Strauß Sohn. Es gibt davon eine sehr schöne, ausdrucksvolle Aufnahme von den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Georges Prêtre beim Neujahrskonzert 2010 in Wien. Der Zugang zu der Aufnahme von dieser Ouvertüre, die ein Brite aus der Übertragung durch die BBC sorgfältig bewahrt hat, ist inzwischen gesperrt, weil eine Firma damit Geld verdienen möchte. Statt dessen ist eine Aufnahme vom Neujahrskonzert 2016 - auch die Wiener Philharmonikr, dirigiert von Georges Prêtre - erreichbar:
Ouvertüre zur "Fledermaus", Wiener Philharmoniker, Dir. Georges Prêtre (2016)
Auch diese Aufnahme ist mit all ihren Ausdrucksdetails ein gutes Vorbild. Nur: Die Wiener Philharmoniker spielten bei beiden Konzerten nicht in einem Opernhaus und hatten auch gar nicht vor, danach die ganze "Fledermaus" aufzuführen! Wir stellen fest: Da hat sich etwas verselbständigt.
Ludwig van Beethoven hat seinen Anteil an dem Verselbständigen der Ouvertüre. Für seine - erste und einzige - Oper "Fidelio" schrieb er nämlich vier Ouvertüren, von denen er die vierte als Ouvertüre zu "Fidelio" bestimmte, während die drei ersten Versionen unter den Titeln "Leonoren-Ouvertüre Nr. 1, 2 und 3" bewahrt sind und insbesondere die Nr. 3 (op. 72 b) ein beliebtes eigenständiges Konzertstück ist. Die eigentliche Fidelio-Ouvertüre ist kürzer (sic!) als die anderen, und das ist von Beethoven selber so gewollt! Es lohnt sich, den Wikipedia-Artikel zu den Aufführungen zu lesen:
Wikipedia-Artikel zu Beethovens Oper "Fidelio" und ihren Ouvertüren
Noch etwas deutlicher verselbständigt hat sich die Ouvertüre zu "Dichter und Bauer" von Franz von Suppé. Die Ouvertüre "kennt man", aber das eigentliche Hauptwerk ist in Vergessenheit geraten. In YouTube gibt es einen Eintrag mit der Ouvertüre der Operette "Dichter und Bauer", gespielt vom Euregio-Jugendblasorchester Tirol (Bitte lassen Sie sich nicht von dem ins Video eingefügten falschen Titel und Dirigenten irritieren.):
Ouvertüre zu "Dichter und Bauer", Euregio-Jugendblasorchester Tirol, Dir. Marco Samadossi (2016)
Der Anfang des Stücks ist - für ein Blasorchester - erstaunlich zart gespielt. Das Altsaxophon, das darin den Part des Solo-Cellos spielt, hat einen dem Cello ähnlichen lyrischen Ton. Und zum Ende hin spielen die Holzbläser mit einer Virtuosität, die man bei so jungen Musikern nicht als selbstverständlich erwarten darf, sondern ehrlich bewundern muss.
Im Orchester ist eine Harfenistin dabei, die mit ihren aufgelösten Akkorden genau den passenden Klang erzeugt. Das ist zwar kein Blasinstrument oder Schlagwerk, aber in der Alpenregion ist die Harfe nun einmal gut vertreten.
Wie bekannt diese Ouvertüre ist, belegt eine Aufnahme des Orchesters Kurt Edelhagen aus den 1960er Jahren, die entstand, als die Musiker bei einer Aufnahmesession auf die Idee kamen, die Ouvertüre mal eben auswendig zu spielen. Der Tontechniker nahm das auf, und so blieb der Spaß der Nachwelt erhalten. Als der Westdeutsche Rundfunk (WDR) das sendete, war ich auch flink genug, das aufzunehmen. Hier ist also diese Aufnahme:
Orchester Kurt Edelhagen spielt Ouvertüre zu "Dichter und Bauer" auswendig (mp3)
Ich betone die Herkunft der Aufnahme, damit niemand auf den Gedanken kommt, das sei unser Verein bei einer Probe gewesen. Bei allem Lachen über die Aufnahme sollte man aber daran denken, dass der unbedarfte Zuhörer das Stück vielleicht auch nur in ähnlich unvollkommener Weise kennt. Als Knabe kannte ich von der "Fledermaus" lediglich ein kurzes Stück mit dem Text: "Glücklich ist, wer verfrisst, was nicht zu versaufen ist". Die wahre Aufgabe in einem Konzert besteht dann darin, dem Besucher das Stück so gut zu präsentieren, dass durch die Freude beim Hören die Erinnerung daran ein Stück weit aufgefrischt und ergänzt wird.
Der Aufbau eines Medleys
Ist bei einer Ouvertüre noch vom Komponisten festgelegt, welche Melodien aus dem Hauptwerk angespielt werden, so ist beim Medley die Zusammenstellung vom Arrangeur gewählt. Und hier beginnt der Ärger.
Die Stücke, die zu einem Medley zusammengeschrieben werden, sind oft in der Liedform komponiert, d. h. mit Versen und Refrain, und darum herum Einleitung, Zwischenspiel, Finale. In der Regel ist das Original eine Gesangsnummer (neudeutsch: Song), wo mit jedem Vers und Refrain zwar die Melodie wiederholt wird, aber der Text (die Lyrics) für Variation sorgt. Für ein Medley als Instrumentalnummer ist ein Vers und einmal der Refrain schon zu viel. Also wird in der Regel auf den Refrain abgehoben, fast schon zynisch: schnell, schnell, das nächste Lied wartet schon! Dabei werden manchmal Übergänge zwischen den Teilen arrangiert, die man gar nicht mehr Übergang nennen kann: abrupte Tempowechsel, auch Taktartwechsel, wobei man Tonartwechsel erstaunlich selbstverständlich hinnimmt. Stil und Ausdruck für ein Stück sollen die Musiker innerhalb einer Sekunde hinbekommen. Ein extremes Beispiel für ein Medley hatten 1961 der Violinist Svend Asmussen und der Gitarrist Ulrik Neumann in ihrem Repertoire. Ein Auftritt im Fernsehen ist in YouTube zu finden und zeigt auch die Clownerie dabei, sowie die Reaktion des Publikums:
"Wunschkonzert": Svend Asmussen (Violine) und Ulrik Neumann (Gitarre)
Wer die Titel, so schnell wie sie wechseln, alle nennen kann, darf sich durchaus "Musik-Kenner" nennen. Als ich das einmal im Radio gehört hatte, kaufte ich mir schnellstens die Platte ("Wider den tierischen Ernst"). Bei der Version auf der Platte sind im Medley sogar noch mehr Titel als in der Fernseh-Aufzeichnung untergebracht.
Medley oder Einzeltitel?
Als unser Verein 2017 ein Medley "Selections from Aladdin", (dem Musical), aufführte, fiel mir der Unterschied zu einem Konzert von 2009 auf. Damals hatte ich für den befreundeten Musikverein Eisingen - übrigens ein Orchester der Spitzenklasse der Amateure - das Konzert aufgenommen. Sie spielten u. a. Musik aus dem Musical "Aladdin", aber nicht als Medley, sondern als Einzeltitel. Da hatte das Orchester die Möglichkeit, die Stimmung der einzelnen Titel den Zuhörern deutlich zu präsentieren. Zwei Jahre zuvor hatten sie in ihrem Konzert einige Titel aus "Lord of the Dance" gespielt, auch als Einzeltitel. Ich freue mich immer noch, auch dabei Aufnahmen gemacht zu haben, denn dem Orchester gelang es, die Stimmung und den Ausdruck der Originalmusik ausgezeichnet zu erzeugen. Hier ist der Titel "Nightmare", der besonders deutlich zeigt, wie Stimmung aufgebaut wird.
Lord of the Dance: Nightmare, MV Eisingen, Dir. Johannes Kurz (mp3)
Auf YouTube findet man inzwischen viele Aufnahmen von "Lord of the Dance" in den unterschiedlichsten Instrumentierungen, vom Original mit Michael Flatley als Haupttänzer über Einzeltitel als "A capella"-Version und die "Dubliners" als gesungene Version mit typisch irischer Instrumentalbegleitung, bis zu Einzeltiteln oder Medley mit großem Blasorchester. Ich fand eine Medley-Aufnahme eines wirklich großen Blasorchesters, bei dem ich allein 21 Trompeten und Flügelhörner zählte, insgesamt 93 Musiker.
2017: MV Hohentengen (Oberschwaben), Dir. Pius Binder
Der folgende Ausschnitt aus dieser Aufnahme zeigt, dass auch ein Medley sorgfältig gespielt sein will. Es gibt hier nämlich gleich zwei Probleme, auf die man unterschiedlich reagieren muss. Bei der Stelle mit dem Titel "Nightmare" spielte das hohe Blech zwar nicht, aber die anderen Blechbläser waren auch noch laut genug und versenkten die Holzbläser, die da die Melodie tragen sollen, in den Untergrund.
Lord of the Dance: Ausschnitt bei "Nightmare", MV Hohentengen, Dir. Pius Binder (mp3)
In dem Video, dem ich das obige Bild entnommen habe, sind eine ganze Reihe von Mikrofonen zu sehen, was auf eine höherwertige Tonaufnahme schließen lässt. Doch der Ton zum Video klingt so, als ob der Originalton der Kamera benutzt wurde, einschließlich seiner ach so bequemen Kompression, wie man am Wellenbild des Audiosignals erkennen kann: Die Dynamik, d. h. die Variation der Lautstärke, die das Orchester hervorbringen sollte, ist durch die Kompression auf etwa 2:1 reduziert worden. Das ist also nicht dem Orchester anzukreiden, sondern der Tonaufnahmetechnik. Mehr zu diesem Problem bei der Aufnahme im Aufsatz "Aufnahmen vom Orchester".
2017: MV Hohentengen, Lord of the Dance, Wellenbild des ganzen Titels
Dunkel markiert: Lage des Ausschnitts der obigen mp3-Datei
Auch wenn die Aufnahme durch die Kompression verändert wurde, so gibt sie doch die relative Lautstärke der Instrumente so wieder, wie sie am Mikrofon angekommen ist. Ein Besucher des Konzerts hätte am Ort des Mikrofons die Klarinetten auch nur andeutungsweise gehört. Es ist deshalb Aufgabe des Dirigenten, auf das Orchester einzuwirken, dass die relativen Lautstärken dem Musikstück angemessen sind. Das Benennen dieser beiden Probleme soll darauf hinweisen, dass das Orchester darauf achten muss, wie sein Klang beim Publikum ankommt, sei es live oder über die Aufnahme. Und bei dieser Aufgabe gibt es keinen Unterschied zwischen Medley und ausführlichen Einzeltiteln!
Beim Anhören der Ouvertüre zur "Fledermaus" (siehe oben) sollte man erkennen, dass dieses Werk nur für ein mit vielen Holzbläsern besetztes Blasorchester vernünftig zu arrangieren ist, wobei auch noch virtuos gespielt werden muss. Es verwundert daher nicht, dass in dem Medley aus der Musik der "Fledermaus", welches unser Verein einmal aufführte, der Beginn der Ouvertüre nicht vorkommt, denn der Arrangeur muss sich auf eine Standardbesetzung des Amateur-Orchesters einrichten. Aber genau da werden die Medleys problematisch. Der Arrangeur muss die Stimmen auf die Standardbesetzung verteilen und weil er dabei nicht viele Möglichkeiten hat, wird der Klang der Teile zwangsläufig nicht stark variieren. Das geht in Richtung "langweilig"! Hier kann der musikalische Leiter des Orchesters aber eingreifen und modifizieren, welches Instrument was spielen soll. Ein Beispiel belegt die Veränderungsmöglichkeiten.
Der Musikverein Linkenheim-Hochstetten spielte in seinem Frühjahrskonzert 2019 in einer Salonorchester-Besetzung den Titel "Liebling, mein Herz lässt dich grüßen" (W. R. Heymann, 1930) (als Einzeltitel, nicht Teil eines Medleys). Das Arrangement schrieb der Dirigent des Vereinsorchesters, Thorsten Reinau. Hier ist eine Hörprobe davon:
Dieses Beispiel sollte ermuntern, Medleys nicht unbedingt wie gedruckt herunterzuspielen, sondern Variationen zu versuchen.
Es gibt noch einen weiteren Umstand, der das Aufführen von Medleys erschwert. In den 50er- und 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts waren Veranstaltungen, bei denen getanzt wurde, ganz üblich: Tanztee in einem Restaurant, Vereinsfeiern, Abiturfeste, Feste von Studentenverbindungen, Militärclubs, bis hin zu großen Fastnachtsveranstaltungen. Als Musik brauchte man dazu: Walzer und Ländler, Langsame Walzer, Foxtrott, Slowfox, Tango, Rumba, Samba, Beguine, Cha-Cha, Rheinländer, Polka, Rock-and-Roll (heute Jive genannt), Boogie-Woogie, Twist, Slop …. alles Tänze mit koordinierten Bewegungen eines Paares. Wenn die Kapelle ein Medley spielte, dann war es ratsam, bei der gleichen Art von Tanz zu bleiben. Denn ob die Tanzenden einen Wechsel der Art des Tanzes mitmachen würden, kann man von der Kapelle aus nicht bestimmen. Weil die Paare mit Tanz und Unterhaltung abgelenkt waren, brauchte man nicht unbedingt viel Abwechslung in die Musik zu bringen. Für Fastnachtsveranstaltungen brauchte man viele Lieder, die auch nach Lust und Laune aneinandergereiht wurden, damit die Tanzenden ja auf der Tanzfläche blieben. Zwei Märsche gehörten dazu, die aber nie in Medleys eingefügt wurden: Der Mainzer "Narrhalla-Marsch" und der "Urfidele Karnevals-Narrenmarsch" von Paul Grützner (1920). Letzterer ist leider fast untergegangen, schade! Bei der Suche nach Noten oder Aufnahmen von diesem Marsch fand ich immerhin eine Aufnahme des renommierten Orchesters Marek Weber aus dem Jahr 1935. Noten fand ich schließlich bei einem Antiquitätenhändler, eine Ausgabe für Piano (und Gesang), vom Komponisten arrangiert und auch selber verlegt. Um den Lesern eine Vorstellung vom Marsch zu geben, nahm ich dies auf, wobei ich mir den Gesang verkniff.
"Urfideler Carnevals-Narrenmarsch von Paul Grützner, 1920", Detlef Rusch, Piano (mp3)
Und begleitend zur Musik kann man sich auch das Titelbild der Noten ansehen:
Urfideler Carnevals-Narrenmarsch, Titelbild von 1920
Bei dem Versuch, diesen Marsch zu kondensieren, indem ich bei Wiederholungen nur den zweiten Durchgang benutzte, kam ich von 3:25 Min auf 1:51 Min, also etwas mehr als die Hälfte. Für ein Medley ist das noch zu lang! Die Einleitung, die Überleitungen und der Schluss müssen erhalten bleiben, denn sie gehören zum Charakter des Marsches. Da dies aber für die meisten Konzertmärsche gilt, hat man nur geringe Chancen auf ein Marsch-Medley. Deswegen war ich überrascht, doch eines zu finden: Es nennt sich "Marsch-Konfetti", und wurde von Franz Xaver Lecheler arrangiert. Es ist in seiner Grundidee dem "Wunschkonzert" von Svend Asmussen und Ulrik Neumann verwandt, nämlich dem Hörer eine Menge von Zitaten vorzuspielen, hier aber mit der Intention: Der Dirigent darf dirigieren, aber wir spielen, was wir wollen. Dazu gehört neben der Musik auch eine wohldosierte Schauspielerei.
"Marsch-Konfetti": MV Ayl startet mit Fehlern, Dirigent bittet um Verzeihung
Da der Humor des Medleys durch die Spielweise des Orchesters und die Gestik des Dirigenten produziert wird, ist es besser, das ganze Video dieses besonders gelungenen Auftritts über folgenden Link anzusehen:
Musikverein Ayl (Saarland), Dir. Bernd Wege, führt "Marsch-Konfetti" auf
Die an Stummfilme erinnernde Gestik des Dirigenten passt ausgezeichnet zum Medley. Reden würde sogar eher stören. Und dazu erspart sich der Verein einen mühsam zu installierenden Mikrofonkanal. Ferner beachte man, dass beim Marsch aus "Aida" die Fanfaren aus Schläuchen mit Trichtern bestehen! Insgesamt fand ich in YouTube 24 Einträge mit dem "Marsch-Konfetti" , was darauf hindeutet, dass die Vereine mit dem Erfolg zufrieden waren. Es lohnt sich, die Einträge anzuschauen, nicht nur, um zu lachen, sondern auch zu sehen, wo die Aufführung geschickt ist. So sah ich bei "Aida" auch Trichter mit Trompetenmundstück als Fanfaren, also ohne Schlauch. Man kann auch darauf achten, was man nicht machen sollte. Auf keinen Fall sollte man das Stück ohne Schaupielerei aufführen. Ich fand zwei Einträge, bei denen das genau so war: uninteressant und gar nicht zum Lachen.
Nachdem ich mich vom Anschauen der 24 Einträge des "Marsch-Konfettis" erholt hatte, kam ich auf die gloriose Idee, nach "Marsch-Potpourri" zu suchen! Tatsächlich fand ich dann zwei Einträge von "Wilfried Rösch und seine Böhmischen Freunde" mit Aufnahmen seines Arrangements "Marsch-Potpourri". Es ist dem "Marsch-Konfetti" verwandt, jedoch ist die humoristische Seite weniger ausgeprägt. Übrig bleibt die Erkenntnis: Konzertmärsche bitte nicht zu einem Medley oder Potpourri eindampfen, sondern als Einzeltitel möglichst musikalisch eindrucksvoll spielen. Diese Erkenntnis ist offensichtlich schon bei Arangeuren verbreitet, denn ich fand in Katalogen kein Medley von mehrteiligen Märschen.
Bei den Wander- und Marschliedern ist die Situation jedoch anders: sie sind in der Liedform aufgebaut, da nimmt man als kürzeste Lösung einfach den Refrain für das Medley, eventuell auch einen Vers: Hauptsache, die Stücke sind bekannt. Im Internet findet man eine ganze Reihe von Noten solcher Medleys, und auf YouTube fand ich auch Einträge von langen Medleys. In einem 45 Minuten langen Potpourri von Marsch- und Wanderliedern, in dem ein Chor für Variation sorgte, so dass die Ausschnitte länger werden konnten, wurde das "Westerwaldlied" immerhin mit zwei Versen und dem Refrain eingebunden. Aber der dritte, wichtigste Vers fehlte:
Vers 1. Heute wollen wir marschier'n
Einen neuen Marsch probier'n
Durch den schönen Westerwald
Ja, da pfeift der Wind so kalt
Refrain: O, du schö-ö-öner We-e-esterwald ... (bekannt)
2. Und die Grete und der Hans
Geh'n des Sonntags gern zum Tanz
Weil das Tanzen Freude macht
Und das Herz im Leibe lacht
3. Ist das Tanzen dann vorbei
Gibt's gewöhnlich Keilerei
Und der Bursch', den das nicht freut
Sagt man, der hat keinen Schneid
Der Text des dritten Verses entspricht durchaus dem, was ich als junger Musiker beobachtet habe, denn ich bin in der Nachbarschaft des Westerwalds aufgewachsen und die Musiker müssen ja meist bis zum Ende eines Festes dabei bleiben. Mir fiel auch auf, dass die Damen bei der Prügelei sogar auch zuschauten und anfeuerten! Hier haben wir also ein Beispiel dafür, wie durch Verkürzen für ein Medley das Original-Musikstück eben doch verfälscht wird.
Für die Feste der Studentenverbindungen musste die Kapelle einen großen Vorrat an Marsch- und Wanderliedern bereithalten, denn mitunter fiel jemandem ein, z. B. auf einer Burg eine lange Polonaise weit herumziehen zu lassen. Und als 1961 in Berlin die Mauer gebaut wurde, kam einer unserer Pianisten auf die gute Idee, mit einem Medley aus Berliner Melodien die Feiernden zu ermuntern, Berlin nicht "abzuschreiben". Refrains aus Titeln von "Ich hab' noch einen Koffer in Berlin" bis "Solang' noch unter'n Linden" reihten sich etwa 7 Minuten aneinander, und das Tempo war den Wünschen der Tanzenden angepasst. Hier eine Hörprobe von Anfang und Ende des Medleys:
Berlin-Medley (Ausschnitte Anfang und Ende) (mp3)
Der Erfolg gerade dieses Medleys war enorm: Nach der "Wende" in der DDR und der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten wurde Berlin ja dann tatsächlich Hauptstadt!
Als die Disco-Begeisterung sich ausbreitete und das Tanzen sich zum individuellen Körperschütteln oder dem "Stehblues" (stehend aneinander gekuschelt langsam schaukeln) wandelte, wurde der Paartanz nur noch von Wenigen betrieben, hielt sich aber als Tanzsport. Die dabei benutzte Musik war oft von Orchestern (z. B. Hugo Strasser, Max Gregor, Franz Thon) aufgenommen, die nach Vorgaben des Tanzlehrerverbands spielten. Da hatten schlichte Amateure mit ihrer Live-Musik keinen Platz mehr. Daneben entwickelte sich eine Präsentationsweise für Musik, bei der auch nicht mehr getanzt wurde, nämlich mit einer Bühnenschau. Das gab den Musikern immerhin die Freiheit, im Stil der Musik nicht mehr daran gebunden zu sein, dass sie auch zum Tanzen geeignet sein musste. Einige Namen? Bitte, ohne viel nachzudenken: Hazy Osterwald-Sextett, Udo Jürgens, Beatles, Rolling Stones, ABBA, Les Humprey Singers, Dschingis Khan, Peter Maffei, Andrea Berg, Carat, Die Puhdys, Silly, Kölner Gruppen wie Bläck' Fööss, De Höhner, Die Paveier. Helene Fischer brachte viel Bewegung auf die Bühne. Die Flippers waren in lokalen Tanzveranstaltungen vertreten und traten auch bei großen Shows auf. Peter Alexander wurde im Wesentlichen durch Film und Fernsehen bekannt. Das Fernsehen half vielen Künstlern mit Auftritten in Shows, wobei sie keine ganze Show bestreiten mussten, sondern nur Einzeltitel vortrugen. Berühmtes Beispiel: die ZDF-Hitparade.
Die Orchester der Musikvereine stecken bei ihren Konzerten mit ihrer Aufführungsmethode in der Klemme, erst recht bei Medleys. Konzerte laufen meist nach dem Schema des klassischen Symphoniekonzerts ab. Das Orchester kommt auf die Bühne, jeder setzt sich an seinen Platz, der Dirigent erscheint, grüßt huldvoll zum Publikum und zum Orchester hin, hebt den Dirigierstock und man legt los. Ist das Stück zu Ende, klatscht das Publikum brav und erwartet das nächste Stück.
Svend Asmussen und Ulrik Neumann haben das herrlich auf's Korn genommen. Es gibt ein Video davon in YouTube, doch es enthält nur den zweiten Teil des Sketches. Deswegen kommt der Anfang hier als Tondatei:
"Barock 'n Roll", Svend Asmussen und Ulrik Neumann (Anfang des Auftritts) (mp3)
Und dann geht es im Video weiter:
"Barock 'n Roll": Svend Asmussen (Violine) und Ulrik Neumann (Gitarre), Teil 2
Die Konsequenz aus all diesen Überlegungen: Wenn die Musik allein nicht packend ist, muss man Abwechslung hineinbringen, Ablenkungen inszenieren. Zunächst ein harmloses Beispiel: Bei unserem Verein sitzen die Gäste nicht auf Stuhlreihen, sondern an Tischen, damit sie auch während des Konzerts Essen und Getränke bei sich haben können. Die Musikstücke müssen durch eine sorgfältig gestaltete Ansage den Gästen nahegebracht werden. Der Dirigent muss Mut aufbringen, in das Arrangement einzugreifen, Soli dort zu organisieren, wo der Arrangeur das gar nicht wissen konnte, was im aktuellen Orchester möglich ist. Es fiel mir im Laufe der Jahre unangenehm auf, dass insbesondere für das Tenorsaxophon kaum Soli arrangiert werden. Ein Solo muss nicht virtuos sein, doch stimuliert es die Aufmerksamkeit der Gäste! Ständige Tutti dagegen sind eher langweilig. Ein Beispiel: oft haben Flügelhörner, Tenorhörner oder Baritone und Saxophone gleiche Stimmen. Da kann man eine Instrumentenart zum Stillhalten aussuchen. Bei Medleys ist das schwerer, weil ein Teilstück häufig nur einen Durchgang hat. Beim Beurteilen der von uns gespielten Medleys vertiefte sich meine Meinung, dass es ratsam ist, stärker nach Einzeltiteln zu suchen. Dabei bewahrt man sich immerhin die Möglichkeit, etwas Unterhaltsames zwischen den Stücken zu präsentieren, - oder auch nicht, wie es ja bei symphonischen Stücken mit mehreren Sätzen üblich ist, einschließlich der entrüsteten Blicke der wissenden Zuschauer, wenn dann doch jemand Beifall klatscht.
Bei einem Konzert eines befreundeten Vereins erlebte ich zum ersten Mal, wie ein begleitendes Video neben dem Orchester die Aufmerksamkeit auf sich zog, so dass die Orchestermusik fast zur Nebensache schrumpfte. Das obige Bild vom Konzert in Hohentengen zeigt eine meinem Erlebnis ähnliche Situation, nämlich mit gleich zwei Projektionen, erkennbar mit Bildern oder gar dem Video von der Michael-Flatley-Inszenierung. Das ist deutlich zu viel Ablenkung von der Orchestermusik. Insbesondere dürfte es ziemlich schwer sein, das Orchester zu einem Video der vollständigen Aufführung zu synchronisieren, wenn man ein Medley spielt. Dann dürften die Zuschauer noch stärker abgelenkt sein.
Fazit: Was tun?
Es gibt leider kein allgemeines Kriterium, mit dessen Hilfe man sich für oder gegen ein Medley entscheiden könnte. Da wir Amateurmusiker generell unsere Noten nicht selber schreiben, sondern kaufen, müssen wir nach Möglichkeit vor dem Kauf uns über die Klangmöglichkeiten erkundigen. Zum Glück gibt es bei den Angeboten der Verlage aber auch Hörproben, die man daraufhin prüfen sollte, ob sie Variation in der Besetzung ermöglichen, ob Soli möglich sind, ob die Übergänge so gestaltet sind, dass das Orchester sie auch beherrscht, wenn der Dirigent einmal nicht dabei ist.